Bei ihm geht es immer um alles: Genau deswegen ist Steve McQueen ein Meister der Auslassung

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 13. August 2020
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Als bildender Künstler und Hollywoodregisseur ist der schwarze britische Künstler eine Ausnahmeerscheinung.

Er hasste seine Schulzeit. Als Schwarzer, mit Lernschwäche, fand er sich von den Lehrern vernachlässigt. Er erfuhr Rassismus und Mobbing am eigenen Leib. Der weitere Lebenslauf ist dem schwierigen Start gleichsam abgetrotzt: ein Akt des Widerstands, der viele seiner Kunstwerke kennzeichnt.

Noch nie allerdings ist ein Projekt von Steve McQueen so sehr begrüsst worden wie dieses: Der Künstler liess Hunderte von Londoner Schulklassen fotografieren und die Bilder in die Tate Britain hängen. Wer vor dem Lockdown im Museum unterwegs war, hörte die ohrenbetäubenden Kinderstimmen schon von weitem. Denn die Fotografierten wollten selbst sehen, wie sie ins Bild gesetzt worden waren, und besuchten die Ausstellung gleich massenweise – und mit grosser Begeisterung.

Die Fotos zeigen eine Multikulti-Gesellschaft, sowohl was die Lehrer, als auch was die Schüler betrifft. Im Stil von formalen Klassenfotos hängen sie in endlosen, wohlsortierten Reihen bis unter die hohe Decke der Ausstellungsräume, manche sind nur in Briefmarkengrösse von unten zu sehen. Sie zeigen Kinder des dritten englischen Schuljahrs.

Das Alter zwischen sieben und acht Jahren, so Steve McQueen, sei ein Wendepunkt in der Bewusstseinsentwicklung von Kindern, an dem sie sich ihrer Herkunft, Klasse, Rasse sowie ihres Geschlechts bewusst würden. Das «Year 3» genannte Projekt schob der Künstler an, um «herauszufinden, wie diese Stadt funktioniert, wo wir stehen und was die Zukunft bereithält».

Es ist ehrgeizig, komplex und zugleich vollkommen einfach und für jedes Kind zugänglich. Sind doch solche Fotos die Art von Bildern, die man später mit Nostalgie oder Schrecken betrachten wird. In ihnen geht es schliesslich nicht nur um die Zukunft, sondern auch um die Gegenwart, die einmal die Vergangenheit sein wird.

Gegen Ekel, Entsetzen, Grausamkeit

Das Interesse daran mag aus der eigenen Vergangenheit des Künstlers stammen: den harten Jahren in der Schule. Obwohl es danach steil bergauf ging für ihn. Steve McQueen, 1969 in London geboren, machte seinen Weg. Er studierte am renommierten Goldsmith College in London und für kurze Zeit auch in New York. 1999 gewann er eine der angesehensten Trophäen der Kunstwelt, den Turner Prize, für «Deadpan», ein Video, das zugleich eine Hommage an das Hollywoodkino von Buster Keaton ist. Diese Arbeit deutete bereits McQueens spätere zwei Heimaten in der Kunst- und der Filmwelt an und sein geistiges wie geografisches Hin-und-Her-Pendeln zwischen Grossbritannien und den Vereinigten Staaten.

Sein erster Spielfilm «Hunger» (2008) über den IRA-Häftling Bobby Sands lief in Cannes und wurde vielfach prämiert, sein dritter Spielfilm «12 Years a Slave» (2013), eine Hollywoodproduktion, bescherte ihm einen Oscar. In seinem Geburtsland erhielt er 2011 die Auszeichnung Commander of the Order of the British Empire und fünf Jahre später die höchste Ehrung des British Film Institute, die BFI Fellowship.

McQueen behandelt alle Medien mit derselben Leidenschaft – und mit moralischem Anspruch. Gibt es für ihn einen Unterschied zwischen Videokunst und Spielfilm? Beim Spielfilm geht es, wie er sagt, um das Geschichtenerzählen. Doch im Grunde enthalten alle seine Werke Geschichten. In den Filmen werden sie auserzählt, in den Videokunstwerken bleiben sie elliptisch, kreisen um Leerstellen, die wir im Kopf ausfüllen können.

Aber auch in seinen Spielfilmen lässt er die Handlung manchmal zum Stillstand kommen. Etwa wenn die Hauptfigur in «Shame» (2011) dem Entsetzen über das eigene Leben in einer nächtlichen Plansequenz buchstäblich davonzulaufen versucht. Oder wenn sich die Kamera in «12 Years a Slave» wegbewegt von der Brutalität der Sklavenhalter und sich auf die gleichgültige, sanfte Natur richtet. Oder auch wenn im IRA-Film «Hunger» bei Bobby Sands’ Tod ein Vogelschwarm auffliegt. Im selben Werk füllen sich Gefängniskorridore einmal langsam mit Urin, und der Regisseur arrangiert das wie eine ätherische Kunstinstallation: In solchen Momenten stemmen sich die Schönheit und eine spröde Zärtlichkeit gegen den Ekel, das Entsetzen, die Grausamkeit.

McQueen fragt nicht nur: Wer sind wir, wo stehen wir? Neben der historisch-politischen Wahrnehmung von Zeit gibt es auch immer ein akutes Bewusstsein für ihr Vergehen und ein spürbar damit verbundenes Bedürfnis, die Grenzen des Greifbaren und Diesseitigen zu überschreiten.

Der menschliche Körper zwischen Tod und Gewalt

Die Tate Modern ehrt ihn – parallel zu seinen «Year 3»-Schulfotos in der Tate Britain – mit einer zweiten, weiträumigen Schau, die mit 14 Werken aber nicht den Anspruch einer repräsentativen Retrospektive erhebt. Im Ausstellungsraum ist es so dunkel wie im Kino vor Filmbeginn. Eine perfekte Folie für McQueens Videoinstallationen, in denen Spannung herrscht und in denen es immer um alles geht.

Wie immer spürt McQueen auch hier vielfach einem Lieblingsthema nach, dem menschlichen Körper: Da ist ein kleiner Bildschirm, auf dem ein Mann mit schwarzer Hautfarbe so furios seine Brustwarze im Endlos-Loop knetet («Cold Breath», 1999), als wolle er sie zum Verschwinden bringen.

Da ist ein in Rotlicht getauchtes, offenes Auge in Nahaufnahme («Charlotte», 2004), von einem Finger berührt und angestossen. Die Rasierklinge in Luis Buñuels Film «Ein andalusischer Hund», die ein Auge durchschneidet, kommt einem in den Sinn. Bei Steve McQueen ist das Auge aber weder Traumerscheinung noch surrealistisches Objekt, sondern so gegenständlich wie ein Auge auf einer Leinwand nur sein kann. Alles dreht sich hier um das Medium Film, um das Sehen und um die Überschreitung körperlicher Grenzen. Übrigens gehört dieses Auge der Schauspielerin Charlotte Rampling, die kaum mit der Wimper zuckt.

Tod und Gewalt sind virulente Themen in Steve McQueens Werk, werden oft nur angedeutet, was die künstlerische Aussage umso wirkungsvoller macht. Da wird denn etwa aus dem Off erzählt, wie in «7th Nov.» (2001): Zu sehen ist nichts als die Grossaufnahme eines von oben aufgenommenen, kahlen Kopfs eines Mannes, der auf einer Steinplatte liegt wie aufgebahrt: ein monumentales Bild.

Dazu hören wir die Stimme von McQueens Cousin Marcus, der seinen Bruder erschoss und über das für ihn unendliche Trauma berichtet. Zugleich liegt Marcus, auf dessen Schädel wir zwanzig Minuten lang starren, selbst so reglos da wie ein Toter. Monolog und Bild stehen im Missverhältnis zueinander. Der Effekt ist schroff und elegisch zugleich. Steve McQueen ist ein Meister der pathetischen Auslassung.

Eine ganz andere Geschichte der Anwesenheit einer Abwesenheit wird in der Installation «End Credits» von 2012 erzählt, die den jahrzehntelangen Bespitzelungen des schwarzen Sängers, Schauspielers und politischen Aktivisten Paul Robeson durch die CIA folgt. Die Abfolge von formelhaften Dokumenten auf einer grossen Leinwand nimmt mehrere Stunden in Anspruch. Der Umfang des Filmmaterials lässt auf die Bedeutung des Betroffenen – und die Gefahr, die in ihm gesehen wurde – schliessen. Über die Arbeit und die Person von Robeson erfahren wir nichts. Und so mutet diese Arbeit wie ein Porträt ex negativo an.

Dass Amerika einen festen Platz auf McQueens kultureller und politischer Landkarte einnimmt, demonstriert der Künstler gleich in dem ersten zentralen Werk in der Tate Modern. Seine siebenminütige Videoinstallation «Static» (2009) wird zur Meditation über die Bedeutung der Freiheit in der Welt nach 9/11: Da umkreist ein Hubschrauber die New Yorker Freiheitsstatue, schwindelerregend, aggressiv, an die Polizeihelikopter erinnernd, deren Gegenwart in vielen Grossstädten inzwischen zum Hintergrundrauschen gehört.

Die Themen, auf die Steve McQueen immer wieder zurückkommt, beschäftigen ihn auch in seinen Kinowerken. So ziehen sich ständige Gedanken und Diskussionen über die Freiheit durch die Spielfilme «Hunger», «Shame» und «12 Years a Slave». Er selbst bezeichnet diese drei Filme als seine «Körper»-Trilogie. Was hier mit Körpern passiert, ist verheerend: Sie fügen sich oder anderen Gewalt zu, sie sind in Gefahr, sind krank, werden vernichtet. Schon in der frühen, vielbeachteten Videoinstallation «Bear» (1993, nicht in der Tate-Ausstellung zu sehen) ging es um Körper: Zwei nackte Männer, einer von McQueen selbst gespielt, sind in einer Situation zwischen Ringkampf und erotischer Umklammerung zu sehen.

McQueen zeigt, welche Rolle Politik, Gesellschaft, Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft für unseren Körper spielen und wie wir wahrnehmen, was dabei passiert. Er zeigt den Körper als Schauplatz gesellschaftlicher und persönlicher Ereignisse. Und manchmal wird dieser Schauplatz zum Schlachtfeld. Der Künstler versteht sich aber auch auf leise Gesten. In einem kurzen Videoclip (1992–1997) filmte er eine Zufallsbeobachtung: Zwei Männer, vielleicht Einwanderer aus der Karibik, bewegen sich mit grosser Effizienz und Selbstverständlichkeit durch dichte Menschenmengen auf einer Londoner Strasse, jeder von ihnen trägt eine eingetopfte Palme wie simple Symbole ihrer Herkunft. Noch von weitem sind die Palmwedel zu sehen und heben die beiden Träger von der Menge ab, auch als sie schliesslich einen Bus besteigen, winken und verschwinden.

London, Tate Britain, bis 21. Januar 2021; Tate Modern, bis 6. September. Katalog £ 25.–.