Ein wahnsinniger Psychopath? Oder ein Träumer, der Kunst und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten konnte? Das British Museum wirft einen Blick auf Kaiser Nero

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 16. Januar 2021
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Die Historiker haben heute ein differenziertes Bild des «wahnsinnigen Kaisers» Nero. Trotzdem hat sich sein schon von Zeitgenossen in die Welt gesetztes Negativ-Image hartnäckig festgesetzt. Wer war der angeblich debile Tyrann wirklich?

Eines muss man Nero lassen. Den Ruhm, an dem ihm so lag, hat er bekommen. Er dauert bis heute an. Vor allem allerdings, weil der Kaiser als eines der grossen Scheusale in die Weltgeschichte einging – was ihn immer schon doppelt faszinierend machte. Das weiss auch das British Museum, das ihm nun eine grosse Ausstellung widmet.

Eine Nero-Büste aus den Kapitolinischen Museen in Rom begrüsst die Eintretenden, dahinter ragt ein überdimensionales Bild von Peter Ustinov auf, der den letzten Kaiser der julisch-claudischen Dynastie im Film («Quo Vadis», 1951) darstellte, und zwar in einer hervorragend gespielten Mischung aus infantilem Wahn und Grausamkeit. Prallen hier Wirklichkeit und üble Nachrede aufeinander? Keineswegs.
Es handelt sich in beiden Fällen um Fake News von gestern. Die Büste des Kaisers wurde im 17. Jahrhundert derart verändert, dass nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem lebenden Modell blieb. Dabei wurden Neros Züge ins leicht Karikaturhafte, Negative zugespitzt, um die jahrhundertelang wiederholte Geschichte vom wahnwitzigen Tyrannen auch optisch glaubwürdig zu machen. Den Begriff Fake News im Zusammenhang mit Nero benutzt übrigens der Museumsdirektor Hartwig Fischer schon im Vorwort zum Begleitbuch der Ausstellung.

Die Rache der Historiker

Damit war also gleich schon gesagt, dass der Eindruck, den spätere Generationen von ihm hatten, dem wahren Nero nur bedingt gerecht wird. Die Ausstellung tritt mit dem Vorhaben an, die Quellen neu auszuwerten und sein Image für uns zurechtzurücken. Also war Nero am Ende doch einer von den Guten?
Nicht ganz, sagt das British Museum, obwohl es sich grosse Mühe gibt, den Imperator in ein günstiges Licht zu rücken – eine Haltung, die übrigens nicht ganz so neu ist, wie sie tut, aber in London eine grosse, in tiefes Schwarz getauchte, dramatisch beleuchtete Bühne findet. Nero, so die These, war vielschichtiger, möglicherweise begabter, sicher interessanter und deutlich weniger wahnsinnig als sein Ruf.

Der Kaiser, dessen vierzehnjährige Regentschaft in bewaffnetem Widerstand gegen ihn endete, war am 9. Juni 68 n. Chr. von seinen Widersachern im Senat zum Selbstmord gezwungen worden, damals war er 31 Jahre alt. Die nachgeborenen antiken Chronisten konnten sich nicht mit der Vorstellung des Niedergangs der Republik und der Kaiserherrschaft eines Einzelnen versöhnen. Sie rächten sich postum an Nero, dem grossen Populisten, der die Stellung der Eliten erschütterte. Der römische Historiker Tacitus beschreibt ihn als grausamen, paranoiden Herrscher, während Sueton davon berichtet, wie Nero sich gern in Verkleidung unters Volk gemischt habe, um wahllos und zum Vergnügen Menschen niederzustechen.

Angst vor der eigenen Mutter

Man hängte ihm vermutlich zu Unrecht den Mord an seinem Stiefbruder an. Auch hiess es, er sei für den Tod seiner zweiten Frau Poppaea Sabina verantwortlich gewesen, deren Ableben er in Wirklichkeit tief betrauerte. Vermutlich starb sie an den Komplikationen einer Fehlgeburt. Postume Gerüchte hingegen besagten, Nero habe sie während ihrer Schwangerschaft mit Tritten in den Unterleib getötet. Diese Unterstellung war nicht ungewöhnlich, um jemanden in Verruf zu bringen – daher könne sie als fingiert gelten, urteilt das British Museum.

Doch nicht alles war üble Nachrede. So schickte Nero seine beim Volk beliebte erste Frau Octavia in die Verbannung und liess sie später umbringen. Auch der von ihm in Auftrag gegebene Mord an seiner machthungrigen, intriganten Mutter Agrippina ist weder zu verleugnen noch durch Verständnis – er fürchtete sie – weichzuspülen.

Agrippina hatte kompliziert getrickst, um ihren Sohn auf den Thron zu bringen, klug zu verheiraten und gut ausbilden zu lassen: Als Lehrer und Mentor holte sie den Philosophen Seneca aus der Verbannung, dessen gutem Einfluss unter anderem auch die erfolgreichen ersten Jahre von Neros Regentschaft zugeschrieben wurden. Der Muttermord wird in der Ausstellung in poetischer Beiläufigkeit gestreift: Auf einer Reihe von Münzen ist Nero zunächst in verschiedenen Versionen Kopf an Kopf mit der Mutter zu sehen. Auf der letzten Münze ist er allein.

Rom brennt, und der Kaiser singt?

Für die Brandstiftung Roms im Jahr 64 n. Chr., zu der er Kithara gespielt und gesungen haben soll, wurde er wiederum zu Unrecht verantwortlich gemacht, so glaubt man heute. Es ist bekannt, dass Nero zur Zeit des Brandes, der die Stadt (und Neros geliebte Kunstsammlung) in neun Tagen verwüstete, gar nicht in Rom war. Ausserdem habe er sich die Gunst der am schwersten betroffenen einfachen Bürger, an der ihm so viel lag, nicht verscherzen wollen.

Dafür setzte sich der architekturbegeisterte Kaiser danach intensiv für den Wiederaufbau Roms ein, inklusive einer sensationell gewaltigen Palastanlage für sich selbst – was wiederum als Indiz für seine Verschwendungssucht galt. Nach dem Brand von Rom nahm die Opposition gegen Nero zu, und sein alter Lehrer Seneca wurde als angeblicher Verschwörer zum Selbstmord gezwungen. Die Schuld für den Stadtbrand, mit dem man ihn in Verbindung brachte, schob er schnell der jungen, unbeliebten Glaubensgemeinschaft der Christen zu, liess sie in Rom verfolgen und hinrichten.

Auch was den Umgang mit Sklaven betraf, war Nero nicht zimperlich. Als während seiner Regentschaft ein Sklave seinen Herrn erschlug, soll der Kaiser die Exekution der Sklaven seines gesamten Haushalts angeordnet haben – es waren mehrere hundert –, um ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Im British Museum erinnert eine schwere Eisenkette, die Kolonnensträflinge oder Sklaven eng aneinanderkettete, an die Sklavenhaltung.

Spiele, Kämpfe, Wagenrennen

Zu den grossen Ereignissen von Neros Regentschaft gehörte der Krieg mit der Icenen-Königin Boudicca, die gegen römische Siedlungen im heutigen Colchester, London und St. Albans ins Feld zog und schätzungsweise 70 000 römische Siedler töten liess. Von Schwertern abgeschlagene Kiefer- und Beinknochen erinnern an die brutale Auseinandersetzung, die Neros Soldaten für sich entschieden, ebenso wie ein Schatz, den vor Boudicca fliehende Römer im heutigen Colchester zurückliessen.

Doch war nicht alles nur Krieg, Brand und Auseinandersetzung in Neros Leben. Er gab dem Volk Brot und Spiele, schätzte Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen, liess Arenen und Thermen bauen und förderte die Künste und Wissenschaften. Er ass gern Flamingozungen und liess sich und seine Gäste dabei von Rosenblättern berieseln. Ausserdem verstand er sich im Grunde seines Herzens als Künstler, was auch schon wieder ein Problem war. Er dichtete, komponierte und sang und liebte es, vor möglichst grossem Publikum aufzutreten. Die römische Oberschicht fand diese Art der Selbstinszenierung allerdings unfein und war entsetzt. Doch beim Volk wurde der Populist Nero zum Star, so deutet die Ausstellung an. Der kunstsinnige Kaiser verstand sich auf öffentliche Selbstinszenierung, liess sein leicht gescheiteltes Stirnhaar in modische Wellen legen und später im Nacken lang wachsen, ein Stil, der von Traditionalisten der römischen Oberschicht wie üblich kritisiert, doch von anderen noch Jahrzehnte nach seinem Ableben begeistert imitiert wurde. Dass der junge, Glanz und Gloria liebende Kaiser im Volk zahlreiche Anhänger hatte, ist sogar an den Wänden Roms dokumentiert: Von keinem anderen Herrscher sind mehr Graffiti bekannt.

«Falsche Neros»

Sein Grab wurde nach seinem erzwungenen Selbstmord zur Pilgerstätte seiner Anhänger, die an seine postume Rückkehr glaubten. Noch Jahrzehnte später zogen «falsche Neros», die zum Klang der Lyra sangen, Scharen von Verehrern an. Neros Feinde aber arbeiteten an der Unterdrückung und Auslöschung seiner Erinnerung, auch das, die «damnatio memoriae», ein übliches Vorgehen bei anderen diskreditierten römischen Herrschern.

Die Diffamierungs- und Auslöschungsstrategien zu Lebzeiten und danach wirkten so gründlich, dass sich nicht viel Gesichertes darüber sagen lässt, wie Nero wirklich war. Seine Bildnisse wurden zerstört oder verunziert, nur wenige überlebten per Zufall. Die letzte Büste in der Ausstellung zeigt einen unkenntlich gemachten Nero: Man rezyklierte sein Porträt, um ein Bild des Vespasian, eines seiner Nachfolger, daraus zu meisseln.