Einfach sein ist gar nicht so leicht: der Jack-Reacher-Autor und sein Erfolgsrezept

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 28. April 2020
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Die Romane von Lee Child gehören weltweit zu den kommerziell erfolgreichsten Büchern. Aber auch das literarische Establishment schliesst ihn inzwischen in die Arme. Grund genug, Lee Childs Karriere genauer unter die Lupe zu nehmen.

Wie wäre es, einmal alles hinter sich zu lassen? Oder für immer? Nur mit einer Zahnbürste und einer Kreditkarte im Gepäck von Ort zu Ort zu fahren. Ganz leicht zu reisen. Das Leben auf sich zukommen zu lassen. Mit diesem Traum von Freiheit beginnen und enden Lee Childs Romane. Der Held ist Jack Reacher, ein ehemaliger Militärpolizist der US-Army, und er hat auch Heldenformat: überlebensgross, unschlagbar und trotzdem keine Cartoonfigur. Da er hässlich ist und schäbig gekleidet, wird er oft für einen Landstreicher gehalten. Sein Traum von Freiheit endet nie glücklich. Immer findet ihn unterwegs irgendein Unglück, ein Verbrechen, ein unüberwindbar scheinender Widerstand. Fast immer ist es das Unglück anderer, das er zu seinem eigenen macht, um es zu überwinden. Wie ein Deus ex Machina betritt er die Szene und heilt, was unheilbar schien.

Kristallklar und schlicht

Alle dreizehn Sekunden kauft irgendwo auf der Welt jemand einen von Lee Childs 24 Jack-Reacher-Romanen, das Privatvermögen des Autors wird auf 50 Millionen Dollar geschätzt. Einige seiner Bücher wurden (mit Tom Cruise) verfilmt, demnächst soll es eine von Amazon produzierte Fernsehserie geben, die auf seinem Debütroman «Killing Floor» basiert. Warum er zu den grössten Bestsellerautoren weltweit gehört, ist leicht zu verstehen. Immer wieder variiert Lee Child sein Lieblingsszenario eines Kampfes von David gegen Goliath.

Reacher ist auf der Seite Davids, auf unserer Seite. Die Welt, in der er sich bewegt, ist hart und oftmals gewaltsam. Doch sie besitzt enormes Trostpotenzial. Alles darin ist aufgeräumt, besitzt kristalline Klarheit und Einfachheit – sprachlich, inhaltlich, moralisch: Gut und Böse sind deutlich unterscheidbar, und das Böse hat meistens schlechte Karten, jedenfalls für jene kurze Zeit, wenn Reacher auftaucht, der nüchterne Held, der Daten, Informationen und Countdowns so gut zu handhaben weiss.

Auch geografisch herrscht minimalistische Disziplin. Nur gelegentlich bewegt sich Reacher an Orten, die jeder kennt, Paris, New York oder Hamburg. Meistens ist er in den Weiten Nordamerikas unterwegs, in austauschbaren Städten mittlerer Grösse in der Mitte von Nirgendwo. Fast immer grenzen sie hart an eine feindselige, karge Natur. Manchmal haben sie sprechende Namen wie «Hope» und «Despair», obwohl der Autor bedeutungsschwangeren Metaphern in der Regel aus dem Weg geht.

Lee Childs jüngster Roman, «Blue Moon», führt wieder an einen dieser Nicht-Orte, bei denen er gleich auf die Namensnennung verzichtet. «The city looked small on a map of America», heisst es im ersten Satz. Die kleine Stadt sei nur ein «winziger, höflicher Punkt» auf der Karte. Doch obwohl seine Storys wie selbstverständlich fast immer in den Vereinigten Staaten beheimatet sind, ist Lee Child Brite, der 1954 in Coventry unter dem Namen James Dover Grant geboren wurde, in Birmingham aufwuchs und bis heute die Spiele seines englischen Fussballklubs Aston Villa verfolgt.

Sublimierte Rache

Die Stationen seiner Biografie lesen sich wie die Märchenstory eines britischen Arbeitslosen, der sich als amerikanischer Bestsellerautor neu erfindet, Orts- und Namenswechsel eingeschlossen. Bis 1995 arbeitete er für den Fernsehsender Granada Television in Manchester. Nach seiner Entlassung begann er mit dem Schreiben, beflügelt von Rachegedanken gegen seine ehemaligen Arbeitgeber, denen die Leserschaft einige frühe Gewaltszenarien zu verdanken hat. Schon der erste Reacher-Roman wurde 1997 mit Preisen ausgezeichnet und verkaufte sich blendend.

Seit 1998 lebt Jim Grant in seiner Reinkarnation als Lee Child in den USA. Das Schreiben findet er die ideale Tätigkeit für Einzelgänger, wie er selbst einer ist: «Ich versuche, Menschen zu vermeiden, wenn ich kann», gestand er kürzlich der «Times». Seine Bücher prägt der Blick des Aussenseiters auf Amerika, getragen von einer Aussenseiterfigur.

Er kann einen ganzen Absatz lang darüber meditieren, wie man eine Tür eintritt. Die ganz grossen Dinge aber werden in kürzesten Sätzen zusammengezurrt. Seine Sprache ist reduziert und lakonisch wie die Hauptfigur, die alles um sich herum absorbiert und wenig spricht. «Reacher said nothing» ist der am häufigsten wiederkehrende Satz der Serie, die den musikalischen Rhythmus von Satzwiederholungen liebt.

Um zu erfahren, was diese Bücher so gut macht, blickte der Autor, BBC-Journalist und Cambridge-Gelehrte Andy Martin Lee Child beim Schreiben seines Bandes «Make Me» (2015) über die Schulter. Es ist einer der düstersten und der brutalste der Reihe. Das Ergebnis seiner Beobachtungen und New Yorker Schreibtisch-Gespräche mit dem Autor fasste Martin in einem geistreichen Fan-Buch unter dem Titel «Reacher Said Nothing» zusammen. Darin geht es um die Rituale, die Anstrengung und die Triebfedern des Schreibens.

30 Tassen Kaffee

«Schreiben ist Showbusiness für schüchterne Leute», erfährt Martin von Lee Child, der seit 1997 jedes Jahr am 1. September ein neues Buch begann. Child arbeitet mit Word in der Schriftart Arial, benutzt Schriftgrösse 10, trinkt im Laufe eines Produktionstages 30 Tassen Kaffee, raucht mehr als ein Päckchen Camel und regelmässig Cannabis. Samuel Becketts «Warten auf Godot» hat er fast vierzig Mal gesehen, das merkt man seinen Büchern an. Eine Geistesverwandtschaft mit Raymond Chandler ist ebenso spürbar, etwa in den Sätzen seines letzten Romans, die er Reacher in den Mund legt: «‹This is a random universe›, he says. ‹Once in a blue moon things turn out just right.›» Philip Marlowe hätte es nicht besser sagen können.

Gelegentlich kommentiert Lee Child den Snobismus des Literatur-Establishments, das auf Erfolgsautoren herabblickt: «Sie nehmen an, dass es einfacher ist, etwas herzustellen, das ein grosses Publikum erreicht, als etwas, das nur einen winzigen Kreis anspricht.»

Dabei hat das literarische Establishment längst begonnen, ihn in die Arme zu schliessen, was ihm zu gefallen scheint. Haruki Murakami liebt die Romane, weil «alles immer dasselbe ist» bei Reacher, dem Rachegott, der sich mit seinem Sinn für Recht und Ordnung gegen das Chaos der Welt stemmt. Auch die Kollegin Kate Atkinson ist Fan, ebenso Antonia Fraser und Margaret Drabble.

Lee Child, dessen grosse Belesenheit oft gepriesen wird, freute sich Anfang des Jahres über die Aufnahme in den Kreis der Booker-Prize-Richter. Das «Times Literary Supplement» bat ihn, einen inzwischen als Buch veröffentlichten Essay über das literarische Motiv des Helden zu schreiben. Der junge Chefredaktor des «TLS» gehört auch zum Kreis der «Reacher Creatures», wie die Anhänger in den angelsächsischen Ländern mit ihrer Freude an schmissigen Etiketten genannt werden.

Sterben lassen geht nicht

Wer weiss, was als Nächstes für Lee Child kommt? Erst kürzlich gab er seinem Leben eine weitere überraschende Wende und verkündete, dass er keine weiteren Reacher-Romane schreiben werde. Jahrelang habe er darüber nachgedacht, wie er Reacher umbringen könnte, berichtete Child. Aber er brachte es dann doch nicht fertig, seinen Protagonisten, den die «Financial Times» als «einen der populärsten fiktionalen Helden unserer Zeit» beschrieb, sterben zu lassen.

Stattdessen überlässt er nun seinem Bruder Andrew – ebenfalls Schriftsteller – das Feld, will ihm aber beim Schreiben der ersten Reacher-Story noch zur Hand gehen. Wenn das klappt, werden wir Reacher wieder begleiten, sobald er den nächsten Bus nach nirgendwo nimmt.