Interview mit John le Carré

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 17. Juni 2017
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Der Umgangston in der Öffentlichkeit werde rauer, konstatiert der Bestsellerautor John le Carré. Aber das habe auch sein Gutes.

Im September wird Ihr neues Buch erscheinen, «A Legacy of Spies». Meisterspion George Smiley, eine der berühmtesten Romanfiguren des 20. Jahrhunderts, gibt darin ein überraschendes Comeback. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich habe die ganze Truppe um Smiley zurückgebracht. Weil wir in einer Zeit der verschwundenen Ideologien leben und ich dachte, es könnte interessant sein, sich noch einmal genau anzusehen, was wir in der Zeit des Antikommunismus getan haben – vom heutigen Standpunkt aus. Ich wollte diese Geschichten aus einer humanistischen Perspektive neu überdenken: «Was hat es gekostet, so zu leben?» Das war die Idee.

Welchen Platz nimmt das Buch in Ihrem Werk ein?
Es komplettiert einen Zyklus meines Schreibens. Und ist eine Neubesichtigung von vielem, das ich geschrieben habe – mit dem Vorteil des Alters und nach dem Verschwinden des Kommunismus als Feindbild. Wir haben damals geglaubt, in einem moralischen Kampf eingeschlossen zu sein. Dieses Gefühl existiert nicht mehr. In Wirklichkeit gab es die feste Linie, die wir uns einbildeten, so gar nicht. Auf mein Engagement gegen den Kommunismus damals blicke ich heute analytisch zurück und frage mich zugleich, wer ich war und was in anderen Welten vor sich geht. Das war der Ausgangspunkt des Romans.

Wohin und in welche Ära werden Sie uns führen mit George Smiley?
Das kann ich Ihnen noch nicht verraten. Aber ich werde den Roman im September in der Royal Festival Hall in London und im Oktober in der Elbphilharmonie in Hamburg vorstellen.

George Smiley ist ein Germanophiler, der Grimmelshausen und Schiller liebt. Auch Sie lieben die deutsche Sprache und lehrten sie am Eton-College. Der Schauplatz Ihres ersten Romans, «Call For the Dead» (1961), war Bern. Und Sie studierten auch Deutsch in Bern.
Das war tatsächlich der Wendepunkt in meinem Leben. Es war eine Flucht aus England, ich war desillusioniert. Ich hatte eine sehr seltsame Kindheit, mein Vater musste immer wieder ins Gefängnis, und ich wollte diesem ganzen Konflikt in England entkommen. Seither ist die Schweiz eine Art zweites Zuhause für mich. Es war der Ort, der mich aufnahm und mich in die Arme nahm – auf eine sehr liebenswürdige Weise.

Sie schrieben einmal, Sie seien 1949 nach Bern gezogen, um «die deutsche Seele zu verstehen». Doch die Schweiz unterscheidet sich in vielem von Deutschland.
Ja, natürlich. Die Schweizer haben eine vollkommen andere Identität. Aber ich hatte es im Wesentlichen mit deutschen Studenten zu tun. Bern war auch ein Sprungbrett Richtung Deutschland. Für jemanden, der dort kein geschäftliches Anliegen hatte, war es sehr schwierig, ins besetzte Deutschland zu gelangen.

Was führte Sie nach Deutschland?
Ich hatte ein Visum, das sagte «Visitor, no facilities». Dann ging ich nach Dachau und Bergen-Belsen. Man hatte den Kopf voll von Geschichten über die Konzentrationslager. Am deutlichsten erinnere ich mich an den bleibenden Geruch von Tod und Zerstörung dort. Ich besuchte auch Westberlin. Alles in allem nur ein paar Wochen, aber es war eine prägende Erfahrung. Jeder, der sich Deutschland von ausserhalb näherte, fragte sich, was unter den Nationalsozialisten passiert war. Bis ans Ende meines Lebens werden weder ich noch die Deutschen selbst in der Lage sein, die Frage zu beantworten: Wie konnte das geschehen, in diesem Ausmass?

In der deutschen Botschaft in London hielten Sie gerade anlässlich der Verleihung des «German Teacher Award» eine Rede über die Förderung der deutschen Sprache in Grossbritannien. Sie erhielten 2011 die Goethe-Medaille für Ihre Verdienste um die deutsche Sprache. Doch alle Welt spricht Englisch. Warum sollten die Briten Deutsch lernen?
Jemandes Sprache zu lernen, bedeutet, jemandes Territorium zu betreten. Es bedeutet, dessen Kultur zu verstehen. Es ist, wie eine Hand auszustrecken. Die Entscheidung, eine Fremdsprache zu lernen, ist für mich schon ein Akt der Freundschaft. Es ist, wie sich zu verlieben – ich könnte mich in jede Sprache verlieben. Es ist Teil der menschlichen Neugier.

Bleiben wir beim Thema Sprache: Sie kennen die Welt der Diplomatie, haben sie in Ihren Büchern oft geschildert. Weist ein Donald Trump mit seinen Tweets da in eine neue Richtung?
Ich glaube, Trump ist ein vollkommener Ausnahmefall. Man kann nicht von ihm als Trend oder Beispiel reden. Er ist ein absolut inakzeptabler, amoralischer Egomane ohne Wahrheit und mit tyrannischen Impulsen. Und ich glaube, ohne übermässig dramatisieren zu wollen, was wir aus der Geschichte gelernt haben: Wir müssen solche Leute schlagen, solange sie im Aufstieg sind. Es darf nicht sein, dass Trump zum Status quo wird.

Er wurde gewählt.
Es gibt ein Ödland von tragischer Dimension in den USA, genau so, wie wir es hier im Norden Grossbritanniens haben. Wenn Sie den Brexit verstehen wollen, müssen Sie nach Doncaster gehen. Wenn Sie Trump verstehen wollen, gehen Sie in den Rust Belt. Da sind Menschen, die in den vergangenen 25 Jahren keine Lohnerhöhung bekommen haben, die kein soziales Sicherheitsnetz haben. Wenn die Tochter sich ein Bein bricht, wird das zur Familienkatastrophe, wie in einem Gerhart-Hauptmann-Stück. Ich mache diesen Menschen keinen Vorwurf, Trump gewählt zu haben.

Finden Sie, dass sich im Zuge der jüngeren politischen Entwicklungen der Sprachgebrauch verändert hat?
Die Sprache, die man in der Vergangenheit hinter verschlossenen Türen benutzte, ist nun nach draussen gelangt. Wenn ich britische Zeitungen lese, dann sehe ich «bugger off» – sich verpissen – in der «Times» schwarz auf weiss gedruckt. Es gibt also einen viel realistischeren Umgang damit, wie ausfallende Sprache gebraucht wird. Die Sprache ist Rabelais-hafter geworden.

Was macht das mit den Menschen?
Sie erinnern sich, wie Trump öffentlich mit der Grösse seines Penis angab. Seltsamerweise deutete die elende Gefangene von Downing Street etwas Ähnliches über Corbyn an. Sie sagte: «Stellen Sie sich vor, dass Jeremy Corbyn allein und nackt einen Verhandlungsraum betritt. Ein Bild, das zu unerträglich ist, um nur daran zu denken.» Das war eine ekelhafte Bemerkung. Aber sofort – das ist der psychologische Effekt – stellen wir uns vor, wie sie selbst nackt aussehen würde. Tatsächlich stimmt es: Öffentliche Statements werden immer expliziter. Die Messlatte der Höflichkeit ist niedriger gehängt. Vielleicht klärt das in mancher Hinsicht auch die Luft, und die Heuchelei kommt aus der Mode.

Auch während der Brexit-Kampagne wurde Sprache auf eine Weise ge- oder missbraucht, wie man es lange nicht gehört hatte. Inzwischen scheint es erlaubt, Dinge zu sagen, die lange nicht zum Repertoire des öffentlichen Diskurses gehörten.
Das stimmt absolut, rassistische Bemerkungen zum Beispiel. Die Ukip machte sich ein Fest daraus. Ebenso wie – implizit – der weit rechts stehende Flügel der Presse hierzulande.

In welchem Zustand sehen Sie Ihr Land nach den jüngsten Wahlen?
Wir erlebten drei konstruktive Geschichten des Scheiterns hier. Zunächst das Scheitern der Konservativen Partei – in ihrer gegenwärtigen Organisation ist sie voll von politischen Abenteurern, zweitklassigen Figuren, schlecht ausgerüsteten Leuten. Das zweite Szenario des Scheiterns: Corbyn und Co. haben nicht gewonnen, trotz diesem aussergewöhnlichen psychologischen Vorteil, den sie am Ende hatten. Worauf wir hoffen könnten, wäre eine Regierung der linken Mitte, dass eine Labour-Regierung mit den alten Ressourcen, die von Corbyn ins Abseits gedrängt wurden, wieder an die Macht käme.

Und die dritte Geschichte?
Das dritte Scheitern ist das der weit rechts stehenden Presse. Wenn man sich das Ausmass der Unterstützung ansieht, das sie May gegeben hat, und die wiederholten Beleidigungen, die sie auf Corbyn gehäuft hat: Es war kontraproduktiv. Das ist für mich die Freude der Freuden. Wäre Rupert Murdoch ein Staatsmann, hätte er sein Amt niederlegen müssen. Wenn der abscheuliche Mr. Dacre, der als Chefredakteur der «Daily Mail» den Geist seiner Leser auf fast täglicher Basis vergiftet, ein Mann von Ehre wäre, müsste er ebenfalls sein Amt aufgeben. Ich drücke das nur milde aus.

Was halten Sie vom Brexit?
Es ist eine Katastrophe. Vieles ist falsch an der Art und Weise, wie die EU geführt wird. Die Briten haben es nicht gern, wenn ihr Leben von Bürokraten geregelt wird. Sie nehmen gern teil an Entscheidungsfindungen. Die Briten verstehen sehr wenig davon, wie Europa funktioniert. Wenn wir unser Herz wirklich darangesetzt hätten, hätten wir Veränderungen bewirken können. Die Macron-Merkel-Allianz, die sich jetzt bildet, ist extrem aufregend. Und es ist eine Tragödie, dass wir nicht Teil davon sind.

Wird der Brexit das geistige Klima in England verändern?
Es hat sich schon jetzt verändert. 72 Prozent der jungen Leute haben gewählt. Das ist erstaunlich. Das haben wir Corbyn zu verdanken. Ich glaube, dass ein Funke von Radikalität – anständiger Radikalität – entzündet wurde, und ich hoffe inständig, dass er nicht erlischt. Ich hoffe, dass er übergeht in die Weigerung, zu akzeptieren, dass der Reichtum des Landes sich nicht im Leben der meisten seiner Bewohner spiegelt. Die Menschen der Arbeiterklasse wurden in die Irre geführt, ihr Lebensstandard wurde heruntergezwungen bis zum Limit des Tragbaren. Das Resultat des Referendums war ein Entscheid unzufriedener Menschen, die über die Konsequenzen ihrer Wahl nicht Bescheid wussten. Sie hatten keine Ahnung, wofür sie stimmten.

Welche Auswirkungen wird der Brexit auf die Kultur- und Kunstwelt haben, wenn überhaupt?
Es kann sein, dass wir eine Art von künstlerischem Response erleben werden wie in den sechziger Jahren, als es das Theatre Royal in Stratford gab, die stark politisch arbeitende Theaterregisseurin Joan Littlewood, Brendan Behan – eine triumphalere Art des Protests. Das war eine Zeit robusten Widerstands und der Verachtung des Establishments, und ich glaube, dass dieselbe Verachtung sich heute gegen die May-Ära richtet. Und gegen Leute wie Boris Johnson und Michael Gove, diese Public-School-Menschen, die an Privatschulen unterrichtet wurden.

Was meinen Sie damit?
Die Vorstellung, dass ein Arbeiterkind in dieselben Chancen hineingeboren wird wie ein privilegiertes Kind, ist absurd, und es beginnt mit der Bildung. 1945, als Clement Attlee Premierminister wurde, war ich in einer Privatschule in Sherborne. Wir wurden zusammengerufen, und uns wurde gesagt, wir seien die letzte Generation von Privatschülern. Es würde alles auseinandergenommen. Aber das passierte nie. Wir haben viele absurde Institutionen. Und wir sind deren Gefangene. Sie sind autoritär in ihrem Effekt. Und die Briten unterwerfen sich dem. Wir mögen die Peitsche, oder: Wir mögen sie fast. Aber ich glaube, das hat sich geändert.