Ganz nah am Geschehen: Samuel Pepys

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 4. Februar 2016
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Samuel Pepys (1633–1703) hielt seinen Alltag in einem Tagebuch fest, das ihm postum Weltruhm verschaffte. Das Maritime Museum macht auf brillante Weise den Mann und seine Zeit sichtbar.

Eine Stirnfalte zwischen den Augen, die vollen Lippen leicht geöffnet, als wolle er gleich zu sprechen beginnen. Kritisch, selbstsicher, mitten in der Bewegung, mitten im Leben: So sah Samuel Pepys im März 1666 den Maler John Hayls an, und so hielt ihn der Maler auf einem Porträt für die Mit- und Nachwelt fest. Am 17. März 1666 notierte Pepys über das Modellsitzen beim Maler in seinem Tagebuch: «Ich breche mir fast den Hals, während ich über meine Schulter blicke, um die Haltung einzunehmen, mit der er arbeiten kann.» Es gab weitere Sitzungen am 20., 23., 28. und 30. März, als er bis zum Einbruch der Dunkelheit für den Maler stillhalten musste, während der seinen Mantel verewigte, «mein Gewand, das ich mir geliehen hatte, um darin gemalt zu werden, ein indisches Gewand». In der Hand hielt Pepys ein Notenblatt, auf dem eine selbstkomponierte Melodie zu Worten eines Gedichts von William Davenant zu lesen war, «Beauty retire». Pepys, der das Geld und ein gutes Leben liebte, bezahlte Hayls am 16. Mai 14 Pfund für das Bild und 25 Schilling für den Rahmen und vermerkte, dass er mit dem Ergebnis «sehr zufrieden» sei.

Schnörkellos

So nahe kommen wir dem Alltag dieses vielleicht berühmtesten aller Tagebuchschreiber seiner Zeit: Er blickt aus seinem Bild zu uns herüber, und wir sehen und lesen ihn. Seine Aufzeichnungen machen uns darüber hinaus zu Zeugen der Entstehung des Bildes, wir erfahren sogar Details über die Requisiten, die darauf zu sehen sind, und werden über seinen Preis und seine Wirkung informiert. All dies ganz ohne Wort-Zierrat: Samuel Pepys beschränkte sich in seinen Tagebüchern, die er von 1660 bis 1669 führte, aufs Wesentliche. Er schreibt über seine Arbeit, seine Begegnungen, über das, was er isst und trinkt, seine Krankheiten und das, was er um sich herum – in London, im Zentrum der Macht – sieht und hört. Wie viele Tagebücher und jedes Leben enthält auch dieses viel Alltägliches, sich Wiederholendes. Auch bei Pepys ist nicht alles Glanz und Funkeln.

Doch er ist neugierig, lebenshungrig, direkt. Seine Sprache ist präzise, lässt aber auch Platz für die Vorstellungskraft der Leserin. In ein paar Sätzen wird der Autor lebendig, mit seinem verkürzenden Stil, der auf ein Leben voller Beschäftigungen hinweist, auf einen zupackenden, pragmatischen Geist. Häufig beendet Pepys seine Eintragungen mit dem Satz «And so to bed» – «Dann zu Bett». Ganz einfache, in den Tagebüchern wiederholte Sätze wie dieser sind im Englischen ins zitierfähige Alltagssprachgut eingegangen.

Fleiss und Neugier

Pepys‘ Karriere führte zu hochrangigen Stellen als Verwaltungsbeamter mit weitreichenden Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnissen beim englischen Marineamt. Dem in bescheidenen Verhältnissen geborenen Sohn eines Schneiders kamen Beziehungen zu einflussreichen adligen Verwandten bei seinem Aufstieg zustatten. Später übernahm er das Amt des Schatzmeisters in Tanger, um dort die Auflösung der englischen Kolonie zu überwachen. Das englische Unterhaus sah ihn als Abgeordneten und die Wissenschaftsgesellschaft Royal Society als Präsidenten zu einer Zeit, da Newtons «Principia Mathematica» erschienen. Die Naturforschung interessierte den vielseitig Gebildeten, obwohl er sich nach eigenem Dafürhalten nicht als ein Mann der Wissenschaften verstand. John Evelyn, ein anderer grosser Diarist seiner Zeit, notierte an Pepys‘ Todestag, dem 26. Mai 1703: «This day died Mr Samuel Pepys, a very worthy, industrious and curious person.»

Die Nachwelt kennt Pepys als den bedeutendsten Chronisten seiner Zeit, der die Enthauptung (von Charles I.) wie auch die Krönung (von Charles II.) eines Königs erlebte und die Zwischenzeit ab 1649, in der England eine Republik wurde. Pepys lebte in einer prägenden Epoche, in der sich die Monarchie neu positionierte und England seinen politischen und ökonomischen Einfluss stärkte und seine Stellung als Seemacht ausbaute.

Als die Schule schwänzender Schüler wohnte Samuel Pepys der Hinrichtung Charles‘ I. bei, und später, zu Amt und Würden gekommen, sprach er auf dem Schiff, das Charles II. aus seinem Exil nach England zurückbrachte, mit dem künftigen König und dessen Bruder, dem späteren James II. Das Private der Alltagswelt, die grosse Politik der Salons und die Intimität der Schlafzimmer, dunklen Gassen und Kutschen: Von der Detailaufnahme bis zur Totale ist in diesen Tagebüchern alles vorhanden.

Der Star fehlt

Das Maritime Museum in London widmet dem Zeitzeugen eine mit Stil und Schwung gestaltete Ausstellung, die den Mann und seine Zeit mit 200 Objekten üppig illustriert. Schiffsmodelle, Gemälde, Roben, Musikinstrumente – alles ist da. Ein Theater mit Schattenrissfiguren deutet Pepys‘ leidenschaftlich ausgelebte Liebe zur Bühne und weitere, von ihm ausführlich dokumentierte private Neigungen an: «Music and women I cannot give way to, whatever my business is.»

Der Tod von Oliver Cromwell im Jahr 1658 wird – markiert durch eine Totenmaske – ebenso zum Thema wie eine traumatische Blasensteinoperation, die Pepys im selben Jahr erlebte – ohne Anästhesie und Antiseptikum. Der grosse Brand von London, der im Jahr 1666 vier Fünftel der City vernichtete, kann anhand einer Karte und einer dramatischen Simulation nachvollzogen waren. Eine Station der Ausstellung widmet sich der Pest, die 1665 in London und seinem Umland 100 000 Menschen das Leben kostete. Die Krönung von Charles Stuart zum König von England am 23. April 1661 wird mit Bildern und Dokumenten belebt, ebenso wie die Dekadenz und die Ausschweifungen des höfischen Lebensstils.

Nur der eigentliche Star der Schau fehlt: das Tagebuch selbst. Denn Samuel Pepys hatte in seinem Testament verfügt, dass seine Aufzeichnungen – in mehreren in Leder gebundenen Bänden – im Magdalene College in Cambridge aufbewahrt werden sollten und diesen Ort nicht verlassen dürften. Die Ausstellungsbesucher können stattdessen eine digitalisierte Version durchblättern.

Das Tagebuch mochte Samuel Pepys dazu gedient haben, Rechenschaft über das Erlebte abzulegen, oft witzig und selbstkritisch, sein Mitteilungsbedürfnis oder vielleicht seine Schreibsucht zu befriedigen und das intensiv gelebte Leben noch zu vertiefen. Pepys‘ Einträgen fehlt das Zusammenfassende, Ordnende eines Rückblicks aus zeitlicher Distanz. Beim Lesen ist man sich immer der Prozesshaftigkeit bewusst, der unabgeschlossenen Darstellung ganz nah am Geschehen.

Zusätzlich ging Pepys‘ tägliches Schreiben über das Persönliche hinaus. Er war ein gebildeter Mann, der wusste, dass die Aufzeichnungen aus seiner bewegten Zeit für die Nachwelt von historischem Interesse sein mussten. Mit 26 Jahren begann er das Tagebuch und beendete es, als er nahezu ein Jahrzehnt später um seine nachlassende Sehkraft zu fürchten begann. Für die Eintragungen machte er sich schon im Laufe des Tages Notizen, die erst später in die – so überlieferte – stenografische Endfassung gebracht wurden: So spontan, wie sie scheinen, waren Pepys‘ sorgsam ausgearbeitete Aufzeichnungen also keineswegs.

Der Mythos vom «Code»

Ein unglücklicher Student namens John Smith unternahm im frühen 19. Jahrhundert die Transkription des Tagebuchs, in der Annahme, die stenografierten Sätze seien in Geheimschrift verfasst. Ein Jahr nachdem Smith den «Code» mühsam geknackt hatte, fand er heraus, dass es sich um ein Kurzschrift-System von Thomas Shelton handelte, dessen Entschlüsselung in einem Buch auf einem Regal über seinem Schreibtisch zu finden gewesen wäre.

Die Mär von der Geheimschrift hielt sich übrigens noch bis in unsere Zeit. Man vermutete zu Unrecht, dass Pepys damit seine zahlreichen Affären vor seiner Frau verbergen wollte. Tatsächlich aber gibt es in den Tagebüchern selbst Hinweise darauf, dass seine geliebte und oft betrogene Gattin von ihrer Existenz gar nichts wusste. Pepys‘ Mitteilungsbedürfnis mochte gross gewesen sein, aber er konnte auch schweigen.

Bis 26. März 2016. Publikation: Samuel Pepys: Plague, Fire, Revolution. Margarette Lincoln (Hrsg.), mit einem Vorwort von Claire Tomalin. Thames & Hudson, London 2015. 224 S., 260 Illustrationen, Hardcover, £ 29.90.