Blaues Licht für Mick Jagger

Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung | 19. Dezember 2021
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Der Rolling-Stones-Sänger wirkt müder und griesgrämiger als je zuvor. Nun hat er eine neue Brille – und alle schreiben darüber.

Er lehnt sich an das Geländer seines Hotelzimmerbalkons in Miami, cool wie immer. Mick Jagger, unverkennbar. Aber über seinen Augen schwebt ein sonderbares Ding, ein weisser Streifen, ungefähr in der Form eines langgezogenen Hufeisens, aber das trifft es nur sehr ungefähr. Interessant natürlich, was Jagger da auf der Nase hat. Fotografen waren zugegen, die Mann und Objekt für die Weltpresse festhielten. Es handelt sich um eine Lichttherapiebrille, wie nun erklärt wurde. Die «Times» bemühte das Royal College of Psychiatrists und einen Neurologen, um ihre Leser darüber zu informieren, dass die Brille ihre Träger mit weissem Licht, das mit «Blau angereichert» sei, glücklicher mache und deren Energie steigere.

Müde und verdrossen wie selten

Das Licht der Brille enthält keine ultravioletten Strahlen, ist also nicht hautschädlich, dafür soll es dem Hirn helfen, Substanzen wie Dopamin freizusetzen. Man erfuhr ferner, dass das Modell zwischen 130 und 300 englische Pfund koste und über Amazon bestellt werden könne.

Aber das eigentlich Auffallende an der Sache war nicht die Science-Fiction-artige Brille. Es war das bekannte, vom Leben zerfurchte Gesicht ihres Trägers. Er wirkte so müde und verdrossen wie selten. Mick Jagger zeigte uns sein Alltagsgesicht. Selbst in Miami scheint die Sonne nicht hell genug für den Rolling-Stones-Sänger, der mit seiner Band gerade die jüngste ihrer unzähligen Tourneen abschliesst. Er benötigt eine Brille gegen den Winter-Blues.

Möglicherweise war ihm nicht bewusst, wie er wirkte. Oder es war ihm einfach egal. Der Augenblick des Missvergnügens, in dem er seine Müdigkeit zeigte, machte ihn menschlich. Verletzlich. Denn auch für ihn, den König der Coolness, den Mann, der mit 78 Jahren noch mit der Figur eines 17-jährigen Teenagers wie entfesselt über die Bühne tanzt, gibt es Momente, in denen das Leben zäh ist. Momente, in denen er technische Verstärkung braucht. Auch wenn die an ihm merkwürdig aussieht.

Das Herz!

Die Anstrengung der Tournee ebenso wie ihre Verzögerung durch die Covid-19-Pandemie mögen seine Ermattung erklären. Oder das Alter, das auch Mick Jagger irgendwann einholt. Am wahrscheinlichsten aber ist der Verlust des Kollegen Charlie Watts vor einigen Monaten. Als Mick beim ersten Konzert ohne den Schlagzeuger der Stones davon sprach, hatte er Tränen in den Augen und sagte, was ihm in seiner langen Karriere kaum je passierte: «I’m losing it.»

Doch Jagger bleibt Jagger. Die Kameras der Fotografen standen auch dann nicht still, nachdem er die Brille abgesetzt hatte. Das kleine Balkondrama am Strandhotel in Miami hatte noch zwei weitere Akte. Plötzlich erschien der Stones-Sänger mit einem Rasiermesser in der Hand und begann seine Bartstoppeln zu bearbeiten, im Wissen, dass ihm die ganze Welt dabei zuschaute. Auf einmal sah er wieder täuschend jung aus.

Damit war auch Entwarnung gegeben. Das Leben mit seinen vielen banalen Handgriffen geht auch für Mick Jagger weiter, der 2003 für seine «Verdienste um die populäre Musik» zum Ritter geschlagen worden war und seither den Titel Sir trägt. Man muss sich um seinen Seelenzustand und sein Energielevel also keine ernsten Sorgen machen. Immerhin war er vor etwas mehr als einem Jahr krank gewesen: das Herz!

Auf dem Balkon in Miami kam dann noch das Happy End: Auf den letzten Bildern der kleinen Serie erscheint die Lebensgefährtin Melanie Hamrick und umarmt den berühmten Mann auf dem Balkon. Eine schöne Frau, mehr als vierzig Jahre jünger als er, Mutter des achten seiner Kinder, des fünfjährigen Sohnes Deveraux, und offenbar zur Stelle, wenn man sie braucht. Mick im Glück weiss: Auch Überleben ist eine Kunst.